Samstag, 8. Juni 2013

Bilanz

Mein Leben in einem kapitalistischen Land

Kapitel 2: Eine glückliche Kindheit

Meine Mama hatte keinen Fotoapparat und ließ mich meistens einmal im Jahr beim Kinderfest von einem Fotografen fotografieren, wie hier mit meinem Freund Siegfried, der im Nachbarhaus wohnte.

Ich weiß nicht genau, wie meine Großeltern und Eltern und unsere Nachbarn die Nachkriegszeit empfunden haben mögen, die die Hitlerzeit erlebt hatten, durch die Flucht aus den deutschen Ostgebieten alles verloren hatten, was sie besaßen und auch viele Tote aus dem Krieg zu beklagen hatten. Ich als Kind habe meine Kindheit und Jugend als sehr glücklich in Erinnerung und die wirtschaftliche Lage als eine, die nie wieder so gut gewesen ist wie nach dem 2. Weltkrieg.

Als ich auf die Welt kam, waren meine Großeltern bereits Rentner. Davor war mein Opa Melkermeister gewesen und Oma hatte ihm bei der Arbeit geholfen und meine Mutter ebenfalls, weil Opa viele Gehilfen beschäftigt hatte. Wir lebten in einer Siedlung, in der es ausschließlich Flüchtlingsfamilien gab. Mein soziales Umfeld bestand deshalb in erster Linie aus Menschen, die aus Pommern, Mecklenburg, Ostpreußen, Schlesien, dem preußischen Korridor oder als Deutschstämmige aus Russland nach Holstein gekommen waren. Erst später lernte ich das Holsteiner Platt kennen. Als Kind umgab mich ein Sprachgemisch aus verschiedenen Dialekten, so dass ich Platt zwar sehr gut verstehe, aber nicht wirklich sprechen kann, weil ich zu viele Versionen davon kennengelernt und sie deshalb vermischt habe.
Die meisten Kinder bei uns in der Straße waren Mädchen, aber drei Jungen gab es auch, die aber alle wie Siegfried oben etwas jünger waren als ich. In meiner Grundschulklasse waren als gleichaltrige Mädchen meine später beste Freundin Margrit und Rita, die nur einen Tag älter war als ich. Ich war, da unehelich, ein Einzelkind, was früher eher selten war und die Regel eher, dass die meisten Familien etliche Kinder hatten.
Ich selbst war aufgrund der guten Rente meines Großvaters, der als Melkermeister früher einmal sehr gut verdient hat und der damals sehr niedrigen Lebenshaltungskosten trotz der Tatsache, dass Opa ja auch meine Oma und meine nicht berufstätige Mama und mich ohne einen Pfennig Kindergeld ernährte, dennoch finanziell sehr gut gestellt und konnte meinen Freundinnen oft etwas schenken oder sie einladen, mit uns Kaffee zu trinken und Eis essen zu gehen oder dergleichen. Meine Großeltern und meine Mama fanden es immer wichtig, Luxus zu teilen, wenn andere weniger hatten als wir. So wurde ich erzogen und es war für mich normal, oft etwas abzugeben.
Der kleine Hund, den Ihr hier immer seht, hieß Waldo. Später nannten wir ihn meistens Waldi. Er war kein Jack Russel Terrier, auch wenn er so aussieht, sondern ein Mix aus Dackel und Beagle und kam aus Joldelund an der Westküste von Nordfriesland, wo einer der Brüder meiner Großmutter wohnte, der mir den Waldi mitgebracht hat, als ich 10 Jahre alt war, und zwar zu Weihnachten danach.
Ich war sehr oft mit meiner Mutter und meinen Großeltern bei ihren Geschwistern an der Westküste und auch oft in Ost-Berlin bei Verwandten von der Seite meines Großvaters. Unsere Verwandten kamen uns auch häufig in Schellhorn besuchen.
Das Mädchen bei mir ist übrigens meine beste Freundin Margrit, mit der ich bis zu meinem 40. Lebensjahr sehr eng befreundet war, bis ich mich schließlich doch mit ihr zerstritt, um meinem Ex-Mann beizustehen. Sie hat ihn damals zu recht so heftig kritisiert, aber weil ich meinen Ex halt trotz seiner vielen Fehler sehr geliebt habe, konnte ich das damals nicht zulassen und musste mich entscheiden. Schade um meine beste Freundin, die es sicher damals gut mit mir gemeint hat wie viele Leute, die mir geraten haben, mich doch scheiden zu lassen. Margrit und ich gingen gemeinsam durch dick und dünn, als wir Kinder waren und saßen sowohl in der Grundschule als auch in der Realschule immer nebeneinander.
Ich war nicht im Kindergarten und kam in die Schule, ohne auch nur wie viele andere Kinder zählen, rechnen oder einen einzigen Buchstaben schreiben zu können. Meine Mutter hat sowas nie mit mir geübt, Oma und Opa auch nicht. Ich war mit meinen Großeltern oder meiner Mama eher viel spazieren, sie haben mir die Natur erklärt, die Pflanzen und Tiere. Meine Großmutter konnte, weil sie in ihrer Jungend Merino-Schafe in Pommern gehalten haben, das Wetter am Gesang der Vögel ablesen, denn diese Schaf-Rasse darf nicht nass werden, weil sie so so dickes Fell hat. Ich kann heute auch Stunden vor einem Regenguss sagen, wann es Regen gibt. Ich höre das am Gesang der Vögel. Das habe ich zum Beispiel von Oma gelernt. Ich kann aber auch noch viele Passagen aus Goethes Faust und anderen Klassikern der deutschen Dichtung oder aus der Bibel auswendig, weil meine Oma die gesamte Bibel und den gesamten Faust und vieles mehr auswendig konnte und uns das, als wir Kinder waren, oft aufgesagt hat. Oma liebte das Theater und das Ballett.
Jahre später fand ich bei einem Urlaub in Spanien von Berthold Brecht das Buch "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" und las es und fand eine Passage, wo Johanna in Chicago zu einem Fleischproduzenten sagt: "Man soll dem Ochsen nicht das Maul verbinden, der da drischt!" Oma lebte nicht mehr, aber ich weiß von ihr, dass sie das irgendwo zu einem der Gutsbesitzer gesagt hat, weil sein Verwalter so schlecht mit den Melkern, die Opa beschäftigte, umgegangen ist. Das wurde bei uns in der Familie oft erzählt. Und ich weiß, dass meine Großeltern und Berthold Brecht vor dem Krieg länger im gleichen Dorf in der Nähe von Berlin gewohnt haben. Das Theaterstück von Brecht kam aber erst nach dem Krieg in Amerika heraus. Ich glaube deshalb, Oma und Brecht haben sich gut gekannt und der Spruch stammt von ihr und er hat ihn dann in diesem Stück verarbeitet. Mama konnte mir das aber nicht bestätigen und Oma war schon tot, als ich das gelesen habe.
Opa schaute sich gern Baustellen an, wenn er mit mir spazieren ging und war sehr an Politik interessiert. Er hat mir viel aus der Hitlerzeit erzählt und wie schwierig damals alles war und wie lebensgefährlich, zuletzt offen seine Meinung zu sagen. Ich weiß, dass mein Großvater über den Gutsbesitzer, wo er damals arbeitete, in den Röhm-Putsch eingeweiht war und man meine Mutter deshalb gefoltert hat .. aber das habe ich erst kurz vor ihrem Tod durch ihre Wahnvorstellungen während ihrer zuletzt extremen Demenz heraus bekommen. Opa hat nur immer gesagt, ich darf seine Tochter nicht alleine lassen und sol ihr helfen, weil sie so viele Ängste hätte. Ich habe sie nach dem Tod meiner Großeltern auch nicht alleine gelassen und war bis zum letzten Tag ihres Lebens für sie da.
Opa hat mich immer sehr verwöhnt. Genau genommen taten das alle. Es war trotzdem nicht immer ganz leicht, der Liebling von drei Erwachsenen zu sein und deren Ansprüche zu erfüllen.
Einerseits waren alle sehr stolz auf meine guten Schulzensuren, andererseits durfte ich nicht auf das Gymnasium gehen, weil ich ein Mädchen war und meine Mutter meinte, ich soll in einem Büro arbeiten und später heiraten und Kinder kriegen und nicht studieren.

Tja ... ich konnte weder lesen noch schreiben wie viele meiner Klassenkameraden, als ich zur Schule kam, aber das änderte sich sehr schnell. Ich würde nicht sagen, dass jemals im Leben ein Streber war. Ich war oder bin schlicht und ergreifend hochbehabt, was eben sofort aufgefallen ist, als ich begann, zur Schule zu gehen. Ich bestand meine Aufnahmeprüfung auf die Realschule schriftlich natürlich mit ausschließlich Einsen und die darauf folgende mündliche Prüfung auf meine Tauglichkeit für das Gymnasium ebenfalls, aber Mama blieb hart, ich kam auf die Realschule.

Ich war .. Mama sagte immer, das hätte ich von Papa geerbt ... in der Schule immer überall sehr gut, nur nicht in Sport, es sei denn wir hatten im Sommer Schwimmen, wo ich immer in der Staffel dabei war und dann auch mal schaffte, eine 3 in Sport zu bekommen, sonst nie.

Nun ja .. man kann ja nicht immer und überall gut sein und Sport war eben nie mein Ding.

Tanzen allerdings, das mochte ich immer.

Oma schaute so gern Ballett und ich auch und habe schon als Kind immer vor dem Fernsehen mitgetanzt.

Not, Hunger, Angst, unsere Rechnungen nicht bezahlen zu können, keine anständige Kleidung und dergleichen kannte ich nicht und als ich mit der Schule fertig war, konnte ich mir von den 5 Industriebetrieben, bei denen ich mich damals beworben hatte, einen aussuchen. Die anderen wollten mich auch alle gern haben und kamen zum Teil sogar zu uns nach Hause, um mich zu überreden, doch bei ihnen anzufangen.

Wenn man das heute jemand erzählt, der jünger ist, rollen die Menschen ungläubig mit den Augen, aber so war die Zeit damals eben.

Ich hatte vor, nach Ende dieser Lehre in München Journalismus zu studieren. Das wäre auch mit der Ausbildung zur Industriekauffrau .. ich lernte übrigens noch Industriekaufmann !!! ... damals möglich gewesen, aber das kam dann anders.

Von meiner Teenagerzeit erzähle ich Euch dann ein andermal.

LG
Renate




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