Hunger und große Not in der ersten Nachkriegszeit
Nachdem meine Mutter, meine Großeltern und der Rest der Verwandtschaft, die mit ihnen gemeinsam auf die Flucht ging, bei den Engländern über der Demarkationslinie angekommen war, waren sie zunächst froh, überhaupt überlebt zu haben.
Sie landeten in einem Zeltlager irgendwo in Holstein und wurden von dort aus verteilt. Wo der Rest ihrer Familie gelandet war, wussten sie nicht. Es gab damals keine Handys, ja kaum Telefon und dergleichen.
Es war alles zerbombt. Noch heute werden laufend Bomben aus dem letzten Krieg in Kiel gefunden und entschärft und auch ab und zu an anderen Orten.
Die Holsteiner und sicherlich auch viele andere Menschen in Deutschland, die die Flüchtlinge aus den Ostgebieten nun an den Hacken hatten, wurden gezwungen, Platz zu machen. Sie waren ganz sicher nicht alle begeistert davon, auch noch den kleinsten Winkel an Wohnraum angeben zu müssen, damit dort Flüchtlinge untergebracht werden konnten. Es waren alles notdürftige Unterkünfte, nichts Tolles.
Aussuchen, wo man genau hin wollte, das konnten sich die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten damals nicht.
Meine Familie landete so zunächst in Horstedt, einem Dorf an der Westküste Nordfrieslands.
Die Menschen hatten alle großen Hunger. Nicht nur jeder Quadratmeter Wohnraum wurde systematisch erfasst, auch alles, was es an Essen gab. Was übrig war, wurde eingezogen und verteilt. Die Bauern hatten es da etwas besser und ließen ab und zu etwas verschwinden, hatten ihre Geheimecken für etwas mehr an Essbarem.
Es gab Essen normalerweise direkt nach dem Krieg nur gegen Essensmarken, und das war bitterwenig.
Meine Mutter war mit Mitte 20 so mager, dass sie monatelang keine Regelblutung mehr hatte. Meiner Oma hatte mehr die Kälte auf der Flucht zu schaffen gemacht. Sie saß mehrere Jahre gelähmt mit Gelenkrheumatismus im Rollstuhl, hat aber später wieder laufen gelernt und lief wieder recht flott, als ich so alt war, dass ich mich daran erinnern konnte.
Unterwegs auf der Flucht hatten meine Leute einen Sack Kaffeebohnen gefunden und mitgenommen. Der tat ihnen nach der Flucht gute Dienste, denn sie konnten die gegen mehr zu Essen eintauschen.
Oma spann Wolle und strickte viele Dinge im Norwegermuster aus brauner und weißer naturfarbiger Wolle.
Meine Mutter hatte vor dem Krieg einen Nähkurs gemacht und war in der Lage, aus Fallschirmseide Kleider für die Frauen zu nähen, auch oft Hochzeitskleider.
So trugen beide dazu bei, durch diese Arbeit ein bisschen mehr zu Essen zu verdienen, damit der Hunger nach dem Krieg nicht ganz so weh tat.
Als die Wirtschaft sich wieder zu erholen begann, fand mein Großvater auf dem Gut Wilhelminenhof Arbeit als Melkermeister und sie zogen von Horstedt weg in die Gegend, wo ich heute noch immer lebe.
Wilhelminenhof wurde aufgesiedelt .. das heißt vieles davon wurde Bauland, denn das wurde nach dem Krieg ja gebraucht. Dann kam Opa nach Scharstorf und von dort als Rentner in unser eigenes Haus in Schellhorn.
Über die Verwendung dieses Hauses unmittelbar in der Nachkriegszeit möchte ich Euch auch noch was erzählen, damit Ihr versteht, was es heißt, wenn zu viele Menschen sich zu wenig Wohnraum teilen müssen.
Dazu bald mehr.
LG
Renate